5. KAPITEL
Die Leitung war tot. Victor Hobson legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. In jungen Jahren hatten seine kalten, grauen Augen und sein zerfurchtes Gesicht ihm ein verwegenes Aussehen verliehen. Auch nun mit Anfang Sechzig, sah er immer noch hart aus. Allerdings lichtete sich sein graues Haar allmählich, er hatte einen Bauch bekommen und nahm Pillen gegen Bluthochdruck. Neben all den Banküberfällen, den Drogenproblemen und den übrigen Bundesverbrechen, mit denen er sich herumschlagen musste, konnte er auf den zusätzlichen Stress, den das plötzliche Auftauchen von Carl Rice bedeutete, gut verzichten. Die Vorfälle von Lost Lake waren eine der merkwürdigeren Begebenheiten in seinem an Aufregungen nicht gerade armen Leben gewesen. Vanessa Kohler hielt er für eine schwer gestörte Frau. Entweder war sie eine Mörderin oder der Schlüssel zu einem Geheimnis.
Hobson befahl einer Agentin, Sam Cutler aufzulesen und ihn in die Agentur zu schaffen. Er glaubte zwar nicht, dass Cutler tatsächlich in Gefahr schwebte, aber Vanessas Freund wusste vielleicht, wohin sie wollte. Sobald die Agentin gegangen war, schwang Hobson seinen Stuhl herum, bis er mit dem Rücken zum Schreibtisch saß. In Washington schien die Sonne. Während Hobson von seinem Fenster im FBI-Gebäude aus das Getriebe auf den Straßen betrachtete, dachte er an das letzte Mal zurück, als er mit Vanessa gesprochen hatte. Das war Ende der achtziger Jahre gewesen, mehr als ein Jahr, nachdem sie aufgegriffen worden war, als sie benommen vor dem Sommerhaus von Eric Glass herumspazierte. Und drei Monate, nachdem sie aus dem Serenity Manor entlassen worden war, dem Privatsanatorium, in dem sie gelebt hatte, nachdem ihr Vater, General Morris Wingate, sie aus dem Krankenhaus in Lost Lake abgeholt hatte. Damals hatte Hobson es nicht geahnt, aber mittlerweile war er davon überzeugt, dass seine Untersuchung des Mordes an dem Kongressabgeordneten Glass der Wendepunkt seiner Karriere gewesen war.
Die Shenandoah-Apartments in Chevy Chase, Maryland, waren teuer und gut bewacht. Die drei Gebäude standen etwas abseits von der Straße. Eine gepflegte Rasenfläche trennte sie von dem mit Spitzen versehenen, schmiedeeisernen Zaun, der das ganze Gelände umgab. Man wurde nur eingelassen, wenn man den Wachposten am Eingang überzeugen konnte, dass man geschäftlich mit Senatoren, Bundesrichtern, Filmstars und anderen Angehörigen der Elite zu tun hatte, die in dem bewachten Komplex residierten.
Serenity Manor hatte sich schlicht geweigert, Victor Hobson ohne gerichtliche Vorladung zu Vanessa zu lassen. General Morris Wingate erklärte Hobson, er wolle nicht, dass seine Tochter aufgeschreckt werde. Er fügte hinzu, dass Vanessa ernsthafte geistige Probleme habe und ohnehin keine verlässliche Zeugin sei. Hobson hatte von einem Freund bei der Telefongesellschaft einen Gefallen einfordern müssen, um Vanessas Wohnungsnummer zu bekommen, sowie seinen FBI-Status und eine ziemlich unverhüllte Drohung ins Feld führen müssen, um den Türsteher und den Sicherheitsbeamten an der Rezeption zu überzeugen. Während er mit dem Aufzug in den zwanzigsten Stock hinauffuhr, dachte er darüber nach, was die Wingates wohl verbargen. Vanessas Vater hatte seine Tochter schon aus dem Krankenhaus in Lost Lake weggeschafft, als Hobson dort eintraf. Wingate wollte ihr, wie er behauptete, die hervorragende Pflege angedeihen lassen, die das Serenity Mayor bot. Alle Ersuchen, die Patientin befragen zu dürfen, waren von den Ärzten des psychiatrischen Krankenhauses abgeschmettert worden. Angeblich wollten sie ihre Patientin nur schützen. Es wäre ihren Worten zufolge zu traumatisch für eine derartig labile Persönlichkeit, wenn sie die Schrecken von Lost Lake erneut durchleben müsste.
»Wer ist da?« fragte Vanessa nervös, nur Augenblicke, nachdem Hobson an ihrer Tür geklingelt hatte. Er war nicht angemeldet. Der Türsteher und der Sicherheitsbeamte kannten die Konsequenzen, die es für sie hatte, wenn sie Vanessa gewarnt hätten.
»Federal Agent Victor Hobson.« Er hielt seinen Dienstausweis vor das Guckloch. »Darf ich hereinkommen, Miss Wingate?«
»Worum geht es?«
»Darüber würde ich hier draußen, wo uns alle Nachbarn hören können, nur sehr ungern reden.«
»Ich will nicht mit Ihnen sprechen.«
Hobson spielte seine Trumpfkarte aus. »Carl Rice hat wieder getötet, Miss Wingate. Ich möchte nicht, dass er noch jemanden verletzt, Sie eingeschlossen.«
Auf der anderen Seite der Tür blieb alles still. Hobson fragte sich, ob Vanessa überhaupt noch da stand. Schließlich klickte ein Schloss, eine Sicherheitskette und ein Riegel klapperten, die Tür schwang auf, und Vanessa Wingate sah ihn misstrauisch an, als sie zur Seite trat, um ihn hereinzulassen.
Auf Hobson wirkte General Wingates Tochter vollkommen verängstigt. Sie sah blass und erschöpft aus, ihre Kleider hingen von ihren schmalen Schultern herunter, und die dunklen Ringe unter ihren Augen verrieten, dass sie nicht gut schlief.
»Danke, dass Sie mich hereinlassen, Miss Wingate.«
»Kohler«, antwortete sie. »Ich führe den Namen meines Vaters nicht mehr.«
Hobson erinnerte sich, dass ihre Mutter Charlotte Kohler hieß. Sie war bei einem Unfall gestorben, als ihre Tochter noch in die Middleschool ging
Vanessa schloss die Tür und kehrte Hobson den Rücken zu, während sie in das geräumige Wohnzimmer vorausging. Eine Zigarette qualmte in einem Aschenbecher auf einem polierten Mahagoni-Couchtisch. Sie zog die Schultern hoch, als wäre ihr kalt, aber in dem großen Marmorkamin brannte ein Feuer. Die Temperatur in dem Raum betrug bestimmt mehr als dreißig Grad.
»Es war nicht gerade einfach, Sie zu finden«, begann Hobson. »Ich dachte, Sie seien zu Hause in Kalifornien, aber Ihr Vater meinte, Sie seien ausgezogen.«
»Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben«, erwiderte Vanessa verärgert. »Ich rede nicht mit ihm. Er hat mich hier eingesperrt.«
»Mir wurde gesagt, dass Sie psychiatrische Hilfe benötigten, weil Sie durch Ihre Erlebnisse in Lost Lake traumatisiert worden seien.«
Vanessa lächelte kalt. »Das ist die Party-Version. Man zahlt diesen Quacksalbern im Serenity Manor eine Menge Geld, damit sie sich daran halten.«
»Ich habe versucht, mit Ihnen zu reden, als Sie noch im Krankenhaus lagen, aber die Arzte wollten mich nicht zu Ihnen lassen.«
»Damals wäre ich auch keine große Hilfe für Sie gewesen«, antwortete sie ruhig. »Ich stand die meiste Zeit unter Drogen. Das letzte Jahr ist wie im Nebel an mir vorübergegangen.«
»Erinnern Sie sich denn noch an das, was an dem See passiert ist?« fragte Hobson vorsichtig. Er konnte sehen, wie nervös sie war, und hatte Angst, sie zu verschrecken. Vanessa antwortete nicht sofort. Stattdessen zog sie an ihrer Zigarette und starrte ins Leere.
»Miss Kohler?« Er benutzte ihren neuen Namen
»Ich habe Sie gehört, aber ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen möchte.«
»Es ist wichtig. Vor allem jetzt, da noch jemand ermordet wurde.«
Damit weckte er ihre Aufmerksamkeit. »Wen hat Carl... ?«
»General Peter Rivera.«
Vanessa runzelte die Stirn. »Der Name sagt mir nichts.«
»Er ist klein, untersetzt, hat einen dunklen Teint und eine Narbe auf der Stirn.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wieso glauben Sie, dass Carl ihn umgebracht hat?«
»Er wurde auf dieselbe Weise gefoltert und ermordet wie der Kongressabgeordnete Glass.« Vanessa erbleichte. »Und es gibt noch andere Beweise dafür, dass Rice am Tatort war.«
Vanessa rauchte schweigend weiter, Hobson gab ihr Zeit zum Nachdenken.
»Ich habe im Gästezimmer geschlafen«, sagte Vanessa übergangslos. Sie starrte ins Feuer und sah Hobson kein einziges Mal an. »Im ersten Stock. Ich bin aufgewacht, weil ich Stimmen gehört habe. Das hat mich überrascht, weil ich dachte, wir seien allein im Haus.«
»Nur Sie und der Kongressabgeordnete?«
Nun drehte sie sich zu ihm um. »Es war nicht so, wie Sie denken. Er hat sich häufig in unserem Haus in Kalifornien mit meinem Vater getroffen. Eric saß im Geheimdienstausschuss des Kongresses, und mein Vater war der Vorsitzende der AIDC, der Agentur zur Koordination von Geheimdienstdaten. Ich habe einmal mit den beiden zu Mittag gegessen. Als ich von der Schule abging, habe ich mich bei Eric um einen Job beworben.«
»Er war Ihr Arbeitgeber?«
Sie nickte. »Wir waren einfach nur Freunde.« »Und warum waren Sie dann allein in seinem Haus?«
Vanessa senkte den Blick. »Das ist eine Privatangelegenheit. Darüber möchte ich nicht reden.« Sie klang eingeschüchtert.
»Also, Sie haben Stimmen gehört und dann ...«
»Eric hat etwas gesagt. Ich konnte es nicht verstehen, aber es hörte sich merkwürdig an.«
»Merkwürdig?«
»Wie ein Keuchen. Es klang, als habe er Schmerzen. Ich ging hinunter, um nachzusehen. In seinem Büro brannte Licht.« Sie kniff ihre Augen zu.
»Geht es Ihnen gut?«
Vanessa beantwortete Hobsons Frage nicht, sondern redete weiter, als hätte er sie gar nicht gestellt.
»Carl stand mit dem Rücken zu mir. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Zuerst habe ich ihn natürlich nicht erkannt. Als er sich dann herumdrehte, blieb mir fast die Luft weg. Ich weiß noch, wie ich die Hand vor den Mund geschlagen habe. Carl, sagte ich, und dann sah ich Eric und ... und das Messer, das Carl in der Hand hielt. Es war blutverschmiert. Ich bin weggelaufen. Ich glaube, ich habe geschrien.«
»Hat er versucht, Sie einzuholen?«
»Nein. Darüber habe ich ebenfalls nachgedacht, Carl war sehr athletisch. Wenn er mich hätte erwischen wollen, wäre das ein Kinderspiel für ihn gewesen.«
»Er hat Sie also nicht verfolgt?«
»Ich habe nicht zurückgeschaut, sondern bin einfach nur weiter gerannt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich nicht verfolgt hat. Ich bin in den Wald gelaufen. Dann hörte ich, wie ein Boot über den See fuhr. Und dann hat der Deputy mich gefunden.«
»Soweit ich weiß, kannten Sie Rice bereits eine Weile.« »Wir waren in der Highschool zusammen. Dann wurde er eingezogen, und wir haben den Kontakt verloren. Ich bin ihm in Washington D. C. wieder begegnet, einige Monate vor ... vor Lost Lake.«
»Wissen Sie, warum Rice den Kongressabgeordneten umgebracht hat?«
Vanessa sah zur Seite. »Nein.« Hobson war überzeugt, dass sie log.
»Ihr Vater glaubt, dass Rice eifersüchtig auf ihn gewesen ist.«
»Ich sagte Ihnen doch schon, dass da nichts zwischen uns war. Wir waren einfach nur Freunde. Ich habe für ihn gearbeitet.«
»Als Sie Ihre Bekanntschaft mit Rice auffrischten, hat er da etwas gesagt, was Ihrer Meinung nach darauf hindeutete, dass er einen Groll gegen das Militär hegte?«
»Nein.« Die Antwort kam etwas zu schnell. Hobson spielte mit dem Gedanken, nachzuhaken, aber er wollte sie jetzt nicht zu sehr in Bedrängnis bringen. Wenn er mehr in der Hand hatte, würde er noch einmal mit ihr reden.
»Was haben Sie für Pläne?«
»Keine Ahnung. Ich war auf der Graduate School, als das alles passiert ist. Vielleicht mache ich meinen Abschluss nach.«
Vanessas Antwort klang nicht so, als habe sie es damit eilig.
»Bleiben Sie in Washington?«
Vanessa lächelte ihn sarkastisch an. »Ist diese Frage eine freundliche Formulierung für: Verlassen Sie bitte nicht die Stadt?«
Hobson erwiderte das Lächeln. »Nein. Sie können gehen, wohin Sie wollen.«
Er stand auf und reichte ihr seine Karte. »Danke, dass Sie mit mir geredet haben, Miss Kohler. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an.« Vanessa nahm die Karte und legte sie auf den Tisch, ohne sie anzusehen. Sie folgte ihm zur Tür, und als Hobson im Flur stand, hörte er, wie hinter ihm Schlösser und Riegel klickten.
Auf dem Weg zu seinem Wagen dachte Hobson über das Gespräch nach. Er war überzeugt, dass Vanessa ihm Informationen vorenthielt. Wusste General Wingate vielleicht mehr? Hatte der General seine Tochter nach Serenity Manor geschafft, um sie so den Ermittlungen der Behörden zu entziehen? Als er sich seinem Wagen näherte, trat jemand auf ihn zu.
»Agent Hobson?«
Hobson drehte sich um. Eine schwarze Limousine mit einem Chauffeur parkte am Bordstein. Ein elegant gekleideter Mann mit kristallblauen Augen und blonden, fast weißen Haaren hielt einladend die Tür im Fond offen.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, einzusteigen? «fragte er.
»Das würde es allerdings. Wer sind Sie?«
Der Mann hielt ihm einen Ausweis hin, die ihn als Charles Jennings vom CIA identifizierte.
»Fahren Sie ein Stück mit mir«, bat Jennings, nachdem Hobson die Karte ausführlich geprüft hatte. »Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen zurück, nachdem wir uns unterhalten haben.«
»Worüber?«
»Bitte steigen Sie ein! Das ist vertraulich.«
Hobson zögerte, doch schließlich gewann seine Neugier die Oberhand. Er kletterte in den Fond des Wagens. Er war sehr geräumig, hatte eine Bar, Fernsehen und ein Telefon.
»Also, worum geht es?« fragte Hobson, als der Wagen anfuhr.
»Um Ihre Ermittlungen wegen der Morde an dem Kongressabgeordneten Glass und an General Peter Rivera.«
»Welches Interesse hat das CIA an diesen Fällen?«
»Das kann ich Ihnen im Moment nicht erklären.« »Dann werde ich wohl kaum mit Ihnen über die Ermittlungen plaudern können.«
Jennings lächelte. »Ich dachte mir schon, dass Sie so etwas sagen würden.«
»Ich bin eher der ernsthafte Typ, Jennings. Schon als Kind habe ich nicht gern Spielchen gespielt.«
»Oh, das hier ist kein Spielchen, Agent Hobson. Es geht um die nationale Sicherheit.«
»Und das soll ich Ihnen einfach so glauben?«
Jennings Lächeln wurde breiter. »Man hat mich gewarnt, dass Sie ein harter Hund sind.«
»Ich bin nicht hart. Ich halte mich nur an die Vorschriften. Ich diskutiere meine Fälle nicht mit jedem, der fragt. Ehrlich gesagt, Mister Jennings, können solche Ausweise, wie Sie mir eben vorgelegt haben, leicht von findigen Reportern gefälscht werden, die heiß auf eine Story sind.«
»Sehen Sie das Telefon? Rufen Sie Ihren Direktor an, und fragen Sie ihn, ob es okay ist, dass Sie mit mir reden.«
»Den FBI-Direktor?«
Jennings nannte die interne Nummer des Direktors. Hobson kannte sie. Sie stimmte. Er wählte, ohne Jennings aus den Augen zu lassen.
»Ich weiß, warum Sie anrufen, Agent Hobson«, erklärte der Direktor, nachdem Hobson sich identifiziert hatte. »Kooperieren Sie in dieser Angelegenheit vollkommen mit Mr. Jennings.«
»Bedeutet das ... ?«
»Es bedeutet vollkommene, hundertprozentige Kooperation.«
Der Direktor legte auf. Hobson hielt den Hörer noch einen Moment in der Hand, bevor er ihn zurücklegte. Jennings lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Er war entspannt und hatte die Lage offensichtlich im Griff
»Was wollen Sie wissen?«
»Ich will alles wissen, was Sie über Carl Rice herausgefunden haben.«
Hobson sagte ihm, was er wusste.
»Wie lauten Ihre Schlussfolgerungen?« erkundigte sich Jennings, als Hobson fertig war.
»Rice ist ein unzufriedener Veteran, der auf Vanessa Wingate scharf ist. Vermutlich trägt er die Verantwortung für die Morde an dem Kongressabgeordneten Glass und an General Rivera.«
»Vermutlich?«
Hobson zögerte.
»Der Direktor hat Ihnen doch befohlen, vorbehaltlos zu kooperieren, stimmt 's?«
»Das hat er gesagt.«
»Dann beantworten Sie bitte meine Frage. Haben Sie Bedenken bei Ihrer Schlussfolgerung, dass Rice für diese Morde verantwortlich ist?«
Hobson fühlte sich unbehaglich. »Es gibt keinerlei konkrete Beweise, die Carl Rice mit dem Mord in Lost Lake in Verbindung bringen. Alle suchen nach Rice, weil Vanessa Wingate behauptet, er habe den Kongressabgeordneten umgebracht.«
»Fahren Sie fort.«
»Niemand außer Vanessa hat Rice an dem See gesehen. Hätte Vanessa Wingate uns nicht seinen Namen genannt, wäre er nicht einmal ein Tatverdächtiger.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, meinte Jennings. Es war offensichtlich, dass er sehr wohl verstanden hatte, aber er wollte anscheinend, dass Hobson sich ihm anvertraute.
»Die Polizei von Lost Lake kam zu dem Schluss, dass Vanessa den Kongressabgeordneten nicht ermordet hat, weil sie keine Tatwaffe finden konnte, und Miss Wingate kein Blut an sich hatte. Wenn Sie nun aber das Messer und die Kleidung, die sie trug, versteckt hat? Vielleicht war sie ja nackt, als sie ihn umbrachte. Sie könnte das Messer in den See geworfen und anschließend geduscht haben.«
Hobsons Theorie faszinierte Jennings sichtlich. »Was hat Sie zu diesem Gedanken geführt?«
Hobson schüttelte beunruhigt den Kopf. »Warum hat General Wingate seine Tochter in dieses private Sanatorium geschafft, bevor ich Sie verhören konnte? Warum erlauben die Arzte im Serenity Manor mir nicht, mit ihr zu sprechen? Vielleicht wollen Sie Vanessa tatsächlich nur beschützen, weil es sie tatsächlich psychisch schädigen könnte, wenn sie die Ereignisse vom Lost Lake erneut durchleben muss. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der General und seine Tochter etwas verbergen. Nur leider habe ich weder einen Beweis dafür noch die geringste Ahnung, was es sein könnte. Es sei denn, sie hätte Glass getötet.«
»Und General Rivera?« erkundigte sich Jennings.
»Es gibt nichts, was Vanessa mit dem Mord an ihm in Verbindung bringt.«
»Und Rice?«
»Der Tathergang ist derselbe wie bei dem Mord am Lost Lake. Man hat dem General Schnittwunden in der Brust und Verletzungen in seinem Gesicht zugefügt. Auch ihm wurde die Kehle durchgeschnitten. Außerdem wurden an diesem Tatort Blut und Haar von Rice gefunden ...«
»Gab es Anzeichen für einen Kampf?«
»Nein.«
»Das ist interessant. Wenn es keinen Kampf gab, woher stammte dann das Blut?«
Hobson zuckte mit den Schultern.
Jennings bat Hobson, ihm die Akten von beiden Fällen zu schicken. Dann befahl er seinem Fahrer, Hobson zu seinem Wagen zurückzubringen. Sie schwiegen, bis die Limousine anhielt.
»Sie haben meine Karte. Ich möchte sofort über jede neue Entwicklung unterrichtet werden«, erklärte Jennings. »Vor allem möchte ich augenblicklich informiert werden, sollte Carl Rice aufgespürt, gefangen oder getötet werden. Und zwar Tag und Nacht. Rice hat oberste Priorität.«
Unmittelbar bevor Hobson ausstieg, fuhr Jennings fort. »Sie tun Ihrer Karriere einen großen Gefallen, wenn Sie mit mir zusammenarbeiten. Ich bin nicht der einzige, der an diesen Fällen interessiert ist. Es gibt in Washington einige sehr einflussreiche Personen, welche die Wahrheit über Lost Lake herausfinden wollen.«
Hobson hatte eine Kopie der Fälle an das CIA-Hauptquartier geschickt, aber es hatte keine neuen Entwicklungen gegeben. Carl Rice blieb wie vom Erdboden verschwunden, als hätte er nie existiert. Und soweit Hobson beurteilen konnte, hatten Vanessa und Rice nach Lost Lake auch nie wieder Kontakt miteinander aufgenommen.
Hobson behielt Vanessa jedoch im Auge. So erfuhr er, dass sie von einem mehr als großzügigen Fond lebte, den ihre Mutter für sie eingerichtet hatte, und dass sie jeden Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen hatte. Während der anderthalb Jahre nach ihrer Entlassung aus Serenity Manor hatte Vanessa wie eine Einsiedlerin gelebt. Nach vergeblichen Versuchen, eine Anstellung bei einer angesehenen Zeitung zu finden, war sie vom Exposed angeheuert worden und anschließend in ihre jetzige, preiswertere Wohnung gezogen.
Nach ihrer Unterhaltung in der schwarzen Stretchlimousine hatte Hobson nie wieder mit Charles Jennings geredet. Allerdings war es nicht das letzte Mal gewesen, dass er von ihm gehört hatte. Ein paar Jahre nach ihrem kurzen Treffen war Jennings zum Direktor der CIA befördert worden. Als die Regierung wechselte, kehrte Jennings nach Pennsylvania zurück und war zwei Legislaturperioden lang Senator. Vor knapp vier Jahren war Charles Jennings zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.
Während dieser Zeit war Hobson ständig die Karriereleiter hinaufgeklettert bis zu seiner jetzigen Position als Stellvertretender Direktor für polizeiliche Angelegenheiten. Andere Mitarbeiter hatten ebenfalls Beförderungen verdient, einige von ihnen weit mehr als er. Hobson fragte sich stets, welche Rolle für seine Karriere diese kurze Spazierfahrt vor Vanessas Wingates Apartment gespielt hatte.
Seine Gegensprechanlage summte. Hobsons Sekretärin informierte ihn, dass Sam Cutler an der Rezeption wartete. Nachdem die Agentin den Fotografen in sein Büro gebracht hatte, schickte Hobson die Frau hinaus. Cutler sah sich misstrauisch um. Hobson lächelte, damit er sich entspannte.
»Setzen Sie sich, Mr. Cutler. Sie stecken nicht in Schwierigkeiten, falls Ihnen das Sorgen macht.«
»Warum bin ich dann hier?« wollte Cutler wissen.
»Vanessa Kohler glaubt, dass Sie in Gefahr schweben.«
Cutler ließ die Schultern sinken. »Machen Sie Scherze? Es geht um Vanessa?«
»Sie hat mich gebeten, Sie abzuholen und Ihnen Personenschutz anzubieten.«
Cutler wirkte wütend. »Das glaube ich einfach nicht! Wissen Sie nicht, dass Vanessa übergeschnappt ist? Ich habe das alles gerade mit der Polizei durchgekaut. Vanessa hat gestern die 911 gewählt und den Beamten gesagt, ich solle ermordet werden.« Cutler tippte wütend mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe. »Sie ist verrückt!«
»So einfach ist das nicht.« »Ich sage Ihnen, was das ist: Es ist peinlich. Erst diese Cops gestern Abend. Ich habe keine Ahnung, was die Nachbarn denken. Und dann zerrt mich auch noch ein FBI-Agent aus meinem Büro.«
»Dafür entschuldige ich mich. Vanessa ist irgendwo hingefahren. Ich muss erfahren, wohin. Ich habe gehofft, Sie könnten mir vielleicht helfen. Glauben Sie mir, es ist wichtig.«
»Das hat doch nichts mit ihrem Vater zu tun, oder? Sie droht ihm doch nicht etwa? Sie ist vollkommen ausgeflippt, als er verkündete, dass er sich um das Präsidentenamt bewirbt. Das hat diesen neuesten Wahnsinn ausgelöst. Davor ging es ihr ganz gut.«
»Sie hat keinerlei Drohungen gegen General Wingate ausgestoßen.«
Cutler sah aus, als wäre er mit seinem Latein am Ende. »Ich mag Vanessa, wirklich, und ich habe mich sehr bemüht, mit ihrem Problem klarzukommen, doch langsam übersteigt das meine Kräfte. Sie ist eine großartige Reporterin. Hätte sie nicht diese psychischen Probleme, wäre sie eine sichere Kandidatin für den Pulitzer-Preis. Aber sie kann Realität und Phantasie nicht auseinanderhalten, und das ist immer schlimmer geworden. Ich verstehe allerdings nicht, warum das FBI mit ihr redet, geschweige denn, warum es Vanessas Wahngeschichten Glauben schenkt.«
»Ich kann Ihnen nur so viel verraten, dass dies mit einem Fall zu tun hat.«
»Steckt Vanessa in Schwierigkeiten?«
»Nicht von unserer Seite aus. Mr. Cutler, hat Sie Ihnen gegenüber jemals einen Mann namens Carl Rice erwähnt?«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« Cutler schnippte mit den Fingern. »Er steht in diesem Manuskript. O nein! Sagen Sie bloß nicht, dass es etwas mit ihrem Buch zu tun hat! Ich meine, das ist ein totales Phantasieprodukt. Ich habe es gelesen. Sie hat für keine ihrer Behauptungen auch nur den Funken eines Beweises.«
»Was ist das für ein Manuskript?« Hobson stellte die Frage, obwohl er eine Kopie davon gelesen hatte, die ein Mitarbeiter eines Verlages heimlich davon gemacht hatte, der unter der Hand vom FBI bezahlt wurde.
»Sie hat eine Enthüllungsgeschichte über ihren Vater geschrieben. Darin behauptet sie, dass er eine geheime Einheit während des Vietnamkrieges geleitet hätte, die für alle Arten von Verbrechen verantwortlich wäre. Aber auch dafür hat sie keinen einzigen Beweis.«
»Was schreibt sie über Rice?«
Cutler holte tief Luft. »Sie können auf diese wilden Anschuldigungen nichts geben, Mr. Hobson. Mit Mitte Zwanzig musste Vanessa einen sehr grausamen Foltermord miterleben. Ich glaube, das hat ihre Probleme ausgelöst. Sie wurde danach ein Jahr lang in eine private psychiatrische Klinik eingewiesen, wegen des Schocks, den sie erlitten hat. Sie behauptet, ihr alter Freund, dieser Carl Rice, hätte den Kongressabgeordneten Glass getötet, um an Beweise zu kommen, die dieser Mann über diese Militäreinheit hatte, die ihr Vater angeblich geleitet hat. Man kann aber nicht alles glauben, was sie über General Wingate sagt. Sie hasst ihn. Vanessa gibt ihm an allem die Schuld, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist. Am Tod ihrer Mutter, an ihrer Zeit in der psychiatrischen Klinik. Sie glaubt sogar, dass der General an der Ermordung Kennedys beteiligt gewesen ist.«
»Was?«
»Sie behauptet, ihr Vater wäre der zweite Attentäter auf diesem Grashügel gewesen. Außerdem behauptet sie, sie wäre niemals verrückt gewesen, sondern ihr Vater hätte sie nur eingesperrt, damit sie nicht ausplaudern kann, was sie weiß.« Cutler schüttelte den Kopf
»Sie glauben nicht, was in dem Manuskript steht?« wollte Hobson wissen.
»Nein, zum Teufel! Außerdem weiß ich, woher sie das ganze Zeug hat! Sie besitzt eine riesige Sammlung von Büchern und Artikeln über echte Geheimoperationen der Regierung, wie zum Beispiel Phoenix oder Rosewell, über Verschwörungstheorien zu Kennedys Ermordung und solchen Mist.«
»Haben Sie eine Ahnung, wohin Ihre Freundin gefahren ist?«
»Nein. Ich habe gestern Nacht kurz mit ihr gesprochen, direkt nachdem sie die Polizei gerufen hat, aber sie hat mir nicht verraten, wo sie steckt. Ich höre jetzt zum ersten Mal, dass sie weggefahren ist.«
»Falls Vanessa Sie anruft, informieren Sie mich dann über Ihren Aufenthaltsort?«
Sam wirkte beklommen. »Schwören Sie mir, dass man sie nicht verhaftet und dass sie nicht wegen irgendwas verdächtigt wird?«
»Sie haben mein Wort. Ich mache mir nur Sorgen, dass sie vielleicht Carl Rice finden und er ihr etwas antun könnte.« »Dann gibt es diesen Rice also wirklich?«
»Allerdings. Sie war auf der Highschool mit ihm zusammen, und hat ihn etwa um die Zeit wiedergetroffen, als der Kongressabgeordnete Glass ermordet wurde. Sie hat der Polizei verraten, dass Rice den Abgeordneten ermordet hat.«
»Also schwebt sie in Lebensgefahr, wenn sie an diesen Burschen gerät?«
»Das könnte sein.«
Sam holte tief Luft. »Falls Sie anruft, versuche ich herauszufinden, wo sie sich versteckt.«
»Nur fürs Protokoll: Ich habe Vanessa versprochen, Ihnen Personenschutz anzubieten.«
Sam schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich einfach von einem Ihrer Leute zu meiner Zeitung zurückfahren. Und versprechen Sie, dass Sie mir aus der Klemme helfen, wenn mein Boss mich mit Fragen löchert.«